Lehrer und Gelehrte

   

Kant, der Chinese von Königsberg, und Nietzsche

 

 

 

Unser Vorwort:

Hier folgt ein Ausschnitt aus "Jenseits von Gut und Böse", einer Veröffentlichung von Friedrich Nietzsche aus dem Jahre 1886. Der Abschnitt 210 aus dem sechsten Hauptstück "Wir Gelehrten" enthält eine polemische Bemerkung über Immanuel Kant, den "Chinesen von Königsberg". Wir erinnern uns, dass Konfuzius über die Bedeutung von Wörtern und Namen gestritten hatte und man kann hier im Text von Nietzsche verfolgen, wie seinerseits Nietzsche mit den Bedeutungen von Wörtern und Namen im Streit war. Zu seiner Zeit wurden die Wörter "deutscher Geist", "Philosoph", "Kritiker", "Gelehrter" allgemein und oft in polemischen oder propagandistischen Zusammenhängen benutzt. Es bleibt bis heute die ironische Frage, wie man über eigentlich kluge Angelegenheiten so wirr und undurchsichtig streiten kann - es ist auch eine psychologische Frage. Und für Nietzsche ist es ohnehin eine Frage der Moral.
Wir können Nietzsches Lebenswerk nun unter dem Aspekt betrachten, ob Philosophie nicht ein Thema jenseits von Asien ist. Wir sagen, Nietzsche schärft den Blick dafür, ob Philosophie überhaupt nur ein europäisches Thema ist und ob andere Ecken des runden Planeten niemals zur Philosophie finden werden, es sei denn - könnten wir sagen - , man zeigt sie ihnen. Das kann man auch moralisch bewerten und sehr darüber schimpfen - egal, ob das nun als positiv oder negativ, ob das nun als erfreulich oder erschreckend aufgefasst wird. Nietzsche meinte außerdem noch, dass Moral und Philosophie gar nicht zu trennen sei. Auch viele europäische Marxisten versuchten und versuchen auf theoretischem Wege greifbar zu machen, inwieweit der "europäische" Weg ein eigener originaler Weg ist - wenngleich der Marxismus auch von hier kommt. Aber ist Marxismus Philosophie? Oder ist Marxismus Moral?

Bei aller polemischen oder gelehrten Schärfe ist nicht zu vergessen, dass erstmal gesagt und getroffen sein muss, was scharf aufzufassen ist. Konfuzius war, um das auch nicht zu vergessen, ein Freund der Kunst, mit Pfeil und Bogen zu schießen. Zuletzt bleibt die mehr oder weniger scharfe Unterscheidung zwischen Philosoph und Kritiker. Hier formulierte Nietzsche, dass Kant nicht Philosoph genannt werden kann, sondern er nannte Kant einen Kritiker - einen "Chinesen".

Niemand wird in China einen schriftlichen Beleg finden, dass die Chinesen wörtlich von "Philosophie" gesprochen oder geschrieben haben, dass Philosophie in China irgendeinen Ursprung hat oder ein chinesisches Wort mit ähnlicher Bedeutung existiert hat, bevor die Philosophie von jenseits der Grenzen ins Land gekommen ist. Und jeder an Philosophie interessierte Leser dieser Internetseite ist eingeladen, in den Texten von Kant wörtliche Belege dafür zu finden, ob Kant sich selbst als Philosoph jenseits von Kritik bezeichnete. Nietzsche konnte nicht einen einzigen direkten Beleg zitieren. Kant steht also als Kritiker der Philosophie prinzipiell zur Verfügung und man kann sein Werk überhaupt als Kritik verstehen - und als Wissenschaft, wie Kant es selber tat. Er nannte seine Bücher auch so, zum Beispiel "Kritik der reinen Vernunft", "Kritik der praktischen Vernunft" und "Kritik der Urteilskraft". Nietzsche hingegen benutzt das Wort "Kritik" in keinem einzigen Titel seiner veröffentlichten Texte. (Und Kant benutzt zum Beispiel in seiner "Kritik der Urteilskraft" nirgends das Wort Ästhetik, außer in einer Fußnote.)

Weil Kant und Nietzsche sich offenbar völlig einig über diesen Unterschied sind, ist eine "Harmonie ohne Identität", wie sie Zhang Qizhi in die Diskussion gebracht hat (siehe seinen Text hier auf der Internetseite =>jetzt sehen), bei diesen beiden Männern wohl möglich.

Eine besondere Bemerkung möchte ich an die chinesischen Studenten richten, die sich in Deutschland aufhalten. Es handelt sich dabei durchaus auch um die Angelegenheiten der vergleichenden pädagogischen Chinaforschung. In China haben Lehrer aus dem europäischen Ausland immer wieder Schwierigkeiten, wenn sie im europäischen Stil chinesische Schüler unterrichten. Gerade die Bereitschaft zur individuellen Kritik scheint bei den Schülern in China zu fehlen, bemerken die ausländischen Lehrer. Aber das ist gar nicht so. In China fehlt es nicht daran, sondern die Kritik geht ihre eigenen Wege und folgt nicht den ausländischen Vorstellungen. Ohne die Bereitschaft zur Kritik und ohne Kritik überhaupt hätte China nicht den Erfolg, den es heute hat. Und nichts tut den europäischen Kritikern besser, als dass sie selber mal kritisiert werden - nicht wahr?
Zum Beispiel: Als Nietzsche 1886 sein Buch "Jenseits von Gut und Böse" in Deutschland veröffentlichte (Marx veröffentlichte im gleichen Jahr seine Ergebnisse zu Feuerbach), waren die deutschen Schulen und Erziehungen selber nicht darauf aus, eine kriegstreibende, sozusagen jenseits orientierte gesellschaftliche Entwicklung aufzuhalten. Und man kann fragen, ob die deutsche Bildung überhaupt dazu in der Lage ist, jenseits orientierten gesellschaftlichen Entwicklungen erfolgreich entgegen zu treten. Diese Frage erlauben wir immer. Und welche Schüler und welche Lehrer wollen denn überhaupt wissen, wie die gesellschaftlichen Entwicklungen verlaufen, für die die Schüler vorbereitet werden? Oft ist es den Schülern und den Lehrern genug damit, "Gut" und "Böse" zu unterscheiden. Aber ist das notwendig? Ist das klug? Ist das schon alles, was sie wissen? Und wer bildet überhaupt die Lehrer aus? Fühlen sich Schüler von jenseits orientierten Lehrern überhaupt bemerkt und beachtet?

Zhang Qizhi sagte in seinem Vortrag 1988, dass Konfuzius der erste chinesische Lehrer war. Und nun dürfen wir uns fragen, wer in Europa der erste Lehrer war. War es Sokrates? War es Kant? Wie beliebt Konfuzius und Kant bei ihren Schülern waren - daran lässt die Überlieferung keinen Zweifel. Und Sokrates musste wegen seiner Aufmerksamkeit bei Jugendlichen die Todesstrafe hinnehmen.
Und nun mit Nietzsche zu uns Kritikern und "Gelehrten" - und zu Nietzsches Vision von kommenden Philosophen. Sie kommen spät, vielleicht zum Schluss. Lassen wir, die wir unschlüssig sind, sie doch mal kommen - woher und wohin ...

Literatur:

Predrag Vranicki, "Geschichte des Marxismus", 2 Bände, Frankfurt am Main 1983, erweiterte Ausgabe

Longfa Yu (Shanghai) Begegnungen mit Nietzsche. Ein Beitrag zu Nietzsche-Rezeptionstendenzen im chinesischen Leben und Denken von 1919 bis heute, Dissertation Wuppertal 2000, 223 Seiten - zum pdf -

Lutz Geldsetzer, Band 1: Chinesisch-deutsches Lexikon der chinesischen Philosophie, Aalen (Scientia) 1986. Band 2: Chinesisch-deutsches Lexikon der Klassiker und Schulen der chinesischen Philosophie, Aalen (Scientia) 1991. Band 3: (mit Han-ding Hong): Chinesisch-deutsches Lexikon der chinesischen philosophischen Klassikerwerke, übers. aus dem Ci Hai, Aalen (Scientia) 1995.

Shi-Ying, Zhang. “Kant and Chinese Philosophy.” Proceedings of the Eighth International Kant Congress, vol. I,3. Ed. H. Robinson. Milwaukee: Marquette University Press, 1995, 1231-1251

Lee, Kwang-Sae. “Two Images of Man: Confucian and Kantian.” Journal of Chinese Philosophy 13 (1986) 211-238

Röttgers, Kurt: Kritik und Praxis Zur Geschichte des Kritikbegriffs von Kant bis Marx, Berlin, New York 1975

Links zu mehr - mehr / mehr - mehr - mehr - mehr - mehr - mehr - mehr/pdf -

Engels, Nietzsche und Marx etwa zur gleichen Zeit 1886

 

(Hinweis: Der Text wurde von mir in seiner originalen Rechtschreibung zitiert. Nietzsches Hervorhebungen sind aber weggelassen. Andere Hervorhebungen sind von mir.)

Zunächst zeigen wir hier nur den Abschnitt 210 mit dem berühmten Zitat. Das ganze Hauptstück kann in einer zugeordneten Seite gelesen werden => hier.

 

Jenseits von Gut und Böse

Sechstes Hauptstück: wir Gelehrten.

210

Gesetzt also, dass im Bilde der Philosophen der Zukunft irgend ein Zug zu rathen giebt, ob sie nicht vielleicht, in dem zuletzt angedeuteten Sinne, Skeptiker sein müssen, so wäre damit doch nur ein Etwas an ihnen bezeichnet — und nicht sie selbst. Mit dem gleichen Rechte dürften sie sich Kritiker nennen lassen; und sicherlich werden es Menschen der Experimente sein. Durch den Namen, auf welchen ich sie zu taufen wagte, habe ich das Versuchen und die Lust am Versuchen schon ausdrücklich unterstrichen: geschah dies deshalb, weil sie, als Kritiker an Leib und Seele, sich des Experiments in einem neuen, vielleicht weiteren, vielleicht gefährlicheren Sinne zu bedienen lieben? Müssen sie, in ihrer Leidenschaft der Erkenntniss, mit verwegenen und schmerzhaften Versuchen weiter gehn, als es der weichmüthige und verzärtelte Geschmack eines demokratischen Jahrhunderts gut heissen kann? — Es ist kein Zweifel: diese Kommenden werden am wenigsten jener ernsten und nicht unbedenklichen Eigenschaften entrathen dürfen, welche den Kritiker vom Skeptiker abheben, ich meine die Sicherheit der Werthmaasse, die bewusste Handhabung einer Einheit von Methode, den gewitzten Muth, das Alleinstehn und Sich-verantworten-können; ja, sie gestehen bei sich eine Lust am Neinsagen und Zergliedern und eine gewisse besonnene Grausamkeit zu, welche das Messer sicher und fein zu führen weiss, auch noch, wenn das Herz blutet. Sie werden härter sein (und vielleicht nicht immer nur gegen sich), als humane Menschen wünschen mögen, sie werden sich nicht mit der "Wahrheit" einlassen, damit sie ihnen "gefalle" oder sie "erhebe" und "begeistere": — ihr Glaube wird vielmehr gering sein, dass gerade die Wahrheit solche Lustbarkeiten für das Gefühl mit sich bringe. Sie werden lächeln, diese strengen Geister, wenn Einer vor ihnen sagte "jener Gedanke erhebt mich: wie sollte er nicht wahr sein?" Oder: "jenes Werk entzückt mich: wie sollte es nicht schön sein?" Oder: "jener Künstler vergrössert mich: wie sollte er nicht gross sein?" — sie haben vielleicht nicht nur ein Lächeln, sondern einen ächten Ekel vor allem derartig Schwärmerischen, Idealistischen, Femininischen, Hermaphroditischen bereit, und wer ihnen bis in ihre geheimen Herzenskammern zu folgen wüsste, würde schwerlich dort die Absicht vorfinden, "christliche Gefühle" mit dem "antiken Geschmacke" und etwa gar noch mit dem "modernen Parlamentarismus" zu versöhnen (wie dergleichen Versöhnlichkeit in unserm sehr unsicheren, folglich sehr versöhnlichen Jahrhundert sogar bei Philosophen vorkommen soll). Kritische Zucht und jede Gewöhnung, welche zur Reinlichkeit und Strenge in Dingen des Geistes führt, werden diese Philosophen der Zukunft nicht nur von sich verlangen: sie dürften sie wie ihre Art Schmuck selbst zur Schau tragen, — trotzdem wollen sie deshalb noch nicht Kritiker heissen. Es scheint ihnen keine kleine Schmach, die der Philosophie angethan wird, wenn man dekretirt, wie es heute so gern geschieht: "Philosophie selbst ist Kritik und kritische Wissenschaft — und gar nichts ausserdem!" Mag diese Werthschätzung der Philosophie sich des Beifalls aller Positivisten Frankreichs und Deutschlands erfreuen ( — und es wäre möglich, dass sie sogar dem Herzen und Geschmacke Kant's geschmeichelt hätte: man erinnere sich der Titel seiner Hauptwerke — ): unsre neuen Philosophen werden trotzdem sagen: Kritiker sind Werkzeuge des Philosophen und eben darum, als Werkzeuge, noch lange nicht selbst Philosophen! Auch der grosse Chinese von Königsberg war nur ein grosser Kritiker.

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